Hier finden Sie Nachgedanken, Lesefrüchte, Hinweise, Begebenheiten etc. aus dem nahen und weiten Umfeld eines Feldenkrais-Lehrers.

 

Donnerstag, 03. März 2022

 

Das Morden geht jetzt schon eine Woche. Die meisten Länder verurteilen den den Überfall auf die Ukraine mit Ausnahme der einschlägig bekannten Diktatoren oder Möchtegerndiktoren wie Bolsonaro in Brasilien, Maduro in Venezuela, die Herren und Damen in Kuba und Nicaragua.

Yuri Fedin, ein wundervoller Handwerker und Somatic Teacher hat nicht für Feldenkrais-Lehrer ein neues Skelett entwickelt, dass durch Schnüre zusammengehalten, lebensechte Bewegungen demonstrieren kann.

https://boneman.pro/

Hier können sie es auf youtube sehen:

https://www.youtube.com/watch?v=G1aDmCCC1uA

 

Yuri ist Ukrainer. Der amerikanische Feldenkrais-Trainer Larry Goldfarb hat diesen Brief von Yuri Fedin ins Netz gestellt:

 

Dear Larry

Thank you for your words of encouragement!

We stayed in the city, to defend our land, our family, our fellow countrymen. We are all in territorial defense. We will shoot from every window; we will burn with bottles of gasoline and oil those who have come to kill us and our children. We will die here, but we’re not going anywhere. This is our land, our people. We will never forget our brothers, this war, this betrayal! It disgusts me to think and speak in Russian. And I am not the only one . . .

When we see your support . . . tears come to our eyes. Thank the world for this!!!!

 
 
 

 

 

 
 
 

 

It’s quiet now; Kiev and Kharkiv are on fire. We are kicking the crap out of the Russian accuser. We will die, but we will not surrender. Our guys on the front line are heroes! We are collecting water, food, clothes, medicine, weapons for the guys. Everyone and everyone is doing what they can. Today the paratroopers couldn’t make it to the sea because of the storm. God is watching out for us.

Peaceful skies to you and your loved ones!

May God protect you!

Sincerely, Yuri

 
 
 

 

Sonntag, 27. Februar 2022

 

Krieg!

 

Die westliche Welt steht unter Schock. Wir sind voller Trauer und Entsetzen. Der russische Diktator Putin hat entschieden, die Ukraine in ihrer jetzigen Form zu zerstören mit Raketen, Bomben, Panzern und über 100 000 Soldaten. Das Leid auf allen Seiten ist wie in jedem Krieg unermesslich. Wir sind auch deshalb so traurig, weil wir vor ein paar Jahren in Kiew und in Lemberg waren. Wir sahen die vielen Fotos der ermordeten Freiheitskämpfer auf dem Maidan, und wir lernten die Menschen in der Ukraine auf vielen Spaziergängen durch die Städte, und bei manchen Begegnungen schätzen. Eigentlich planten wir längst wieder eine größere Tour durch die Ukraine. Wie seltsam, dass auch die letzten Nachtgedanken ein Zeugnis aus dem in Dunkelheit versunkenen Russland waren. So sehr unsere Hoffnungen und Gedanken bei den leidenden Ukrainern sind, so sehr hoffen wir auch für alle die wundervollen Menschen in Russland, dass dieser schon lange währende Alptraum einmal ein Ende finden möge.

Was können wir tun? Helfen, auch mit Geld, demonstrieren...Das Gefühl großer Hilflosigkeit bleibt. Wir hoffen, dass jede Feldenkrais-Stunde, dass jeder Feldenkrais-Kurs dennoch ein wenig mithelfen möge, kreativere also gewaltfreie Möglichkeiten des menschlichen Umganges spürbar, denkbar und fühlbar zu machen. Oder um es mit einem Zitat in einem Essay des konservativen Philosophen Roger Scruton über den französischen Theoretiker der Macht Michel Foucault  zu beschließen:

"Und indem er die Stellung von Frauen und Kindern ernst nimmt, kommt er der Anerkennung der Wahrheit näher, dass nämlich nicht die Macht, sondern die Liebe die Welt bewegt."

 

 

Mittwoch, 01. Januar 2020

 

Eine bewegende Stimme der Gewaltlosigkeit aus Russland

 

Ein aussergewöhnliches Dokument, gefunden in "The New Yorker" vom 07. Dezember 2019. Die Schriftstellerin und Journalistin Masha Gessen hatte es dort abgedruckt (https://bit.ly/3bSKIqw). Eine Stimme aus dem Russland der Gegenwart, an der Moshe Feldenkrais sicherlich seine Freude gehabt hätte. Vielleicht hätte er diesen jungen Studenten Yegor Zhukov für einen Weltschwärmer, einen Illusionisten gehalten aufgrund seiner eigenen oft bitteren Lebenserfahrung, aber gewiss hätte er dieser aufregenden Stimme seinen Respekt nicht verwehrt. Man meint Tolstoi wieder zu hören oder Kropotkin, Cechov oder all die großen Stimmen der Menschlichkeit aus Russland, wovon ja auch Mahatma Gandhi so stark beeinflusst war. Lesen Sie selbst. Vielleicht werden wir solche mutigen Stimmen auch in Deutschland wieder einmal nötig haben.

 

"In dieser Gerichtsverhandlung geht es in erster Linie um Wörter und ihre Bedeutung. Wir haben über konkrete Sätze, die Feinheiten der Formulierung, verschiedene mögliche Auslegungen gesprochen, und ich hoffe, dass es uns gelungen ist, dem ehrenwerten Gericht zu zeigen, dass ich weder in sprachlicher Hinsicht noch aus Sicht des gesunden Menschenverstands extremistisch bin.

Aber jetzt möchte ich auf einige Dinge eingehen, die grundlegender sind als die Bedeutung von Wörtern. Ich möchte darüber sprechen, warum ich die Dinge getan habe, die ich getan habe, zumal der Gerichtssachverständige seine Meinung dazu abgegeben hat. Ich möchte über meine tiefen und wahren Motive sprechen. Die Dinge, die mich motiviert haben, in die Politik zu gehen. Die Gründe, warum ich unter anderem Videos für meinen Blog aufgenommen habe.

Aber zuerst möchte ich folgendes sagen. Der russische Staat behauptet, der weltweit letzte Beschützer traditioneller Werte zu sein. Uns wird gesagt, dass der Staat viel Geld für den Schutz der Institution der Familie und für den Patriotismus aufwendet. Uns wird auch gesagt, dass der wichtigste traditionelle Wert der christliche Glaube ist. Euer Ehren, ich denke, das könnte tatsächlich eine gute Sache sein. Die christliche Ethik beinhaltet zwei Werte, die ich für mich selbst für zentral halte. Erstens: Verantwortung.

Das Christentum basiert auf der Geschichte eines Menschen, der es wagte, die Last der Welt zu tragen. Es ist die Geschichte einer Person, die Verantwortung im weitesten Sinne des Wortes übernimmt. Im Wesentlichen ist das zentrale Konzept der christlichen Religion das Konzept der individuellen Verantwortung. Der zweite Wert ist die Liebe. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" ist der wichtigste Satz des christlichen Glaubens. Liebe ist Vertrauen, Empathie, Menschlichkeit, gegenseitige Hilfe und Fürsorge. Eine Gesellschaft, die auf dieser Liebe aufbaut, ist eine starke Gesellschaft - wahrscheinlich die stärkste aller möglichen Gesellschaften.

Um zu verstehen, warum ich getan habe, was ich getan habe, müssen Sie sich nur ansehen, wie der russische Staat, der stolz behauptet, ein Verteidiger dieser Werte zu sein, in Wirklichkeit handelt. Bevor wir über Verantwortung sprechen, müssen wir uns überlegen, was die Ethik einer verantwortlichen Person ist. Was sind die Worte, die ein verantwortungsbewusster Mensch sein ganzes Leben lang zu sich selbst wiederholt? Ich denke, diese Worte sind: "Denke daran, dass dein Weg schwierig sein wird, manchmal unerträglich. Alle deine Lieben werden sterben. Alle deine Pläne werden schief gehen. Du wirst verraten und verlassen werden. Und du kannst dem Tod nicht entkommen. Das Leben leidet. Akzeptiere es. Aber wenn du es annimmst, wenn du die Unvermeidlichkeit des Leidens annimmst, musst du immer noch dein Kreuz annehmen und deinem Traum folgen, denn sonst wird es nur noch schlimmer. Sei ein Beispiel, sei jemand, auf den sich andere verlassen können. Gehorcht nicht dem Despot, kämpft für die Freiheit von Körper und Seele und baut ein Land auf, in dem eure Kinder glücklich sein können.

Ist es wirklich das, was man uns beibringt? Ist das wirklich die Ethik, die Kinder in der Schule aufsaugen? Sind das die Arten von Helden, die wir ehren? Nein. Unsere Gesellschaft in ihrer jetzigen Zusammensetzung unterdrückt jede Möglichkeit der menschlichen Entwicklung. Weniger als zehn Prozent der Russen besitzen neunzig Prozent des Vermögens des Landes. Einige dieser wohlhabenden Individuen sind natürlich vollkommen anständige Bürger, aber der größte Teil dieses Reichtums wird nicht durch ehrliche Arbeit angesammelt, die der Menschheit zugute kommt, sondern eindeutig durch Korruption.

Eine undurchdringliche Barriere teilt unsere Gesellschaft in zwei Teile. Das ganze Geld ist oben konzentriert und niemand da oben wird es loslassen. Alles, was unten bleibt - und das ist keine Übertreibung -, ist Verzweiflung. In dem Wissen, dass sie nichts zu hoffen haben, dass sie, egal wie sehr sie es versuchen, sich selbst oder ihren Familien kein Glück bringen können, lassen russische Männer ihre Aggression an ihren Frauen aus, trinken sich zu Tode oder hängen sich auf. Russland hat die weltweit zweithöchste Selbstmordrate bei Männern. So sind ein Drittel aller russischen Familien allein erziehende Mütter mit ihren Kindern. Ich würde es gerne wissen: Schützen wir auf diese Weise die Institution der Familie?

Miron Fjodorow (ein Rap-Künstler, der unter dem Namen Oxxxymiron auftritt), der an vielen meiner Gerichtsverhandlungen teilnahm, hat festgestellt, dass Alkohol billiger ist als ein russisches Lehrbuch. Der Staat drängt die Russen, eine Entscheidung zwischen Verantwortung und Verantwortungslosigkeit zugunsten von Letzterem zu treffen.

Jetzt möchte ich über die Liebe sprechen. Liebe ist unmöglich ohne Vertrauen. Wirkliches Vertrauen entsteht durch gemeinsames Handeln. Gemeinsames Handeln ist in einem Land, in dem sich nur wenige Menschen verantwortlich fühlen, eine Seltenheit. Und wo gemeinsame Aktionen stattfinden, sehen die Hüter des Staates sie sofort als Bedrohung. Es spielt keine Rolle, was Sie tun - ob Sie Gefängnisinsassen helfen, sich für Menschenrechte einsetzen, für die Umwelt kämpfen - früher oder später werden Sie entweder als "ausländischer Agent" gebrandmarkt oder einfach eingesperrt. Die Botschaft des Staates ist klar: „Geh zurück in deinen Bau und nimm nicht an gemeinsamen Aktionen teil. Wenn wir mehr als zwei Leute zusammen auf der Straße sehen, werden wir dich wegen Protest einsperren. Wenn Sie in sozialen Fragen zusammenarbeiten, weisen wir Ihnen den Status eines "ausländischen Agenten" zu.“

 

Woher kann Vertrauen in einem Land wie diesem kommen und wo kann Liebe wachsen? Ich spreche nicht von romantischer Liebe, sondern von der Liebe zur Menschheit.

Die einzige Sozialpolitik, die der russische Staat konsequent verfolgt, ist die Politik der Atomisierung. Der Staat entmenschlicht uns in den Augen der anderen. In den Augen des Staates sind wir schon lange nicht mehr menschlich. Warum sollte er sonst seine Bürger so behandeln, wie er es tut? Warum unterstreicht er seine Behandlung von Menschen durch tägliche Prügel mit dem Schlagstock, Gefängnisfolter, Untätigkeit angesichts einer H.I.V.-Epidemie, die Schließung von Schulen und Krankenhäusern und so weiter?

Schauen wir uns selbst im Spiegel an. Wir lassen uns das antun, und wer sind wir geworden? Wir sind zu einer Nation geworden, die Verantwortung nicht gelernt hat. Wir sind zu einer Nation geworden, die die Liebe nicht gelernt hat. Vor mehr als zweihundert Jahren schrieb Alexander Radischtschew (gilt weithin als der erste russische politische Schriftsteller), als er von St. Petersburg nach Moskau reiste: "Ich sah mich um und meine Seele wurde durch menschliches Leiden verletzt. Dann schaute ich in mich hinein und sah, dass die Probleme der Menschen von den Menschen selbst kommen. Wo sind diese Art von Menschen heute? Wo sind die Menschen, deren Herzen so sehr von dem, was in unserem Land geschieht, schmerzen? Warum sind kaum noch Menschen wie diese übrig?

Es stellt sich heraus, dass die einzige traditionelle Institution, die der russische Staat wirklich respektiert und schützt, die Institution der Autokratie ist. Autokratie zielt darauf ab, jeden zu zerstören, der tatsächlich zum Wohle der Heimat arbeiten will, der keine Angst hat, zu lieben und Verantwortung zu übernehmen. Infolgedessen mussten unsere leidenden Bürger lernen, dass die Initiative bestraft wird, dass der Chef immer Recht hat, nur weil er der Chef ist, dass das Glück in Reichweite sein kann - aber nicht für sie. Und nachdem sie das gelernt hatten, begannen sie allmählich zu verschwinden. Nach Angaben der staatlichen statistischen Behörde verschwinden die Russen langsam, in einer Größenordnung von vierhunderttausend Menschen pro Jahr. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 überstieg der Tod die Geburtenzahl um fast zweihunderttausend. Du kannst die Leute hinter den Statistiken nicht sehen. Aber versuche, sie zu sehen! Das sind die Menschen, die sich aus Hilflosigkeit zu Tode trinken, die Menschen, die in unbeheizten Krankenhäusern zu Tode frieren, die von anderen ermordeten Menschen und die, die sich umbringen. Das sind Menschen. Leute wie du und ich.

Zu diesem Zeitpunkt ist wahrscheinlich klar, warum ich das getan habe, was ich getan habe. Ich möchte wirklich diese beiden Eigenschaften - Verantwortung und Liebe - in meinen Mitbürgern sehen. Verantwortung für sich selbst, für seine Nachbarn, für sein Land. Dieser Wunsch von mir, Euer Ehren, ist ein weiterer Grund, warum ich nicht zu Gewalt hätte aufrufen können. Gewalt erzeugt Straflosigkeit, die Unverantwortlichkeit hervorbringt. Umgekehrt trägt Gewalt keine Liebe. Dennoch habe ich trotz aller Hindernisse keinen Zweifel daran, dass mein Wunsch in Erfüllung gehen wird. Ich schaue nach vorne, über den Horizont der Jahre hinaus, und ich sehe ein Russland voller verantwortungsvoller, liebevoller Menschen. Es wird ein wirklich glücklicher Ort sein. Ich möchte, dass sich jeder so ein Russland vorstellt. Und ich hoffe, dass dieses Bild Sie in Ihrer Arbeit führen kann, so wie es mich in meiner geführt hat.

Abschließend möchte ich feststellen, dass, wenn das Gericht entscheidet, dass diese Worte von einem wirklich gefährlichen Verbrecher gesprochen werden, die nächsten Jahre meines Lebens von Entbehrungen und Widrigkeiten geprägt sein werden. Aber ich schaue mir die Leute an, die in der letzten Welle von Aktivistenverhaftungen eingesperrt wurden, und ich sehe ein Lächeln auf ihren Gesichtern. Zwei Personen, die ich während der Untersuchungshaft kurz getroffen habe, Lyosha Minyaylo und Danya Konon, haben sich nie beschwert. Ich werde versuchen, ihrem Beispiel zu folgen. Ich werde mich bemühen, Freude daran zu haben, diese Chance zu nutzen - die Chance, im Namen der Werte, die mir lieb sind, getestet zu werden. Am Ende, Euer Ehren, je erschreckender meine Zukunft ist, desto breiter ist das Lächeln, mit dem ich sie betrachte. Ich danke Ihnen."

 

 

Montag, 10. Juni 2013

 

Wie erreicht man gutes Stehen?

 

Jedesmal , wenn wir absichtlich kontrollierbare Muskeln und Gelenke merken und ihren Gebrauch verbessern, werden wir fähig, Handlungen, die uns bis dahin gar nicht zu Bewußtsein gekommen sind, beliebig auszuschalten; der Körper wird dann länger, die Haltung richtet sich aus, die Gelenke, die Wirbelsäule, der Kopf organisieren sich in Richtung der idealen Konfiguration. Der Körper fühlt sich leichter und leichter, und schließlich hat man das Gefühl zu schweben.

Die optimale Stehstellung erhält sich nicht, indem man etwas Bestimmtes tut, sondern indem man buchstäblich nichts tut, d.h. indem alle Handlungen absichtlichen Ursprungs ausschaltet, die aus anderen Motivationen stammen als der des Stehens, welche im Lauf der Zeit automatisch geworden und jetzt ein Bestandteil der persönlichen Haltung und Handlung des Stehens sind."

(Feldenkrais, Das Starke Selbst S. 166)

 

Aber Vorsicht mit dem "Schweben". Feldenkrais merkt in anderem Zusammenhang einmal an:

"Menschen, bei denen Abhängigkeit größere, stärkere Gefühlsstörungen verursacht hat, haben oft insgeheim ein nagendes Gefühl drohenden Unheils, von Schuld und Sühne, von verdienter Strafe, die auf sie zukommt. Dann neigen sie dazu, einfachen Dingen mystische Kräfte zuzuschreiben. Sie mögen, dem Yogi ähnlich, dieser Stellung besondere Kräfte zuschreiben, weil sie in ihr zum ersten Mal ein Wohlgefühl empfinden, wie man es normalerweise empfindet, wenn keine widersprüchlichen Motivationen am Werk sind. An der Stellung hier ist nichts besonderes; sie ist ein geeignetes Mittel, um gewisse, ganz gewöhnlich Vorgänge kennen und steuern zu lernen." (Das Starke Selbst, S. 190) 

 

 

03. Juni 2013

 

Felix Breuer veröffentlichte im Journal of Daoist Studies Volume 5/ 2012 eine lesenswerte Studie: Feldenkrais´s Spontaneous Action and Laozi´s Wuwei (http://www.felixbreuer.net/feldenkrais.pdf).

 

Breuer macht sich für die These stark, dass Feldenkrais in seinem Buch „Das starke Selbst“ Anleitung zur Spontaneität Frankfurt 1989 einen einzigartigen westlichen Ansatz zur Verwandlung von Körper und Person präsentiere, dessen Kernbegriff „Spontane Handlung“ sei. Dieser Ansatz könne verglichen werden mit dem Konzept des „Nicht-Handelns“ (Wuwei) von Lao Zi (Laotse). Gemeinsam interpretiert könnten „Das starke Selbst“ und das „Daodejing“ eine einheitliche Handlungstheorie ergeben.

 

Im ersten Teil beschreibt er die Feldenkrais-Methode:

 

Obwohl es sich vordergründig bei der Feldenkrais-Methode nur um eine Serie von gymnastischen Übungen handle, sei sie doch in Wirklichkeit eine subtile Methode der persönlichen Entwicklung mit einem philosophischen Hintergrund, welche Körperbewegung einbeziehe.

 

Das wichtigste Anliegen seiner Lehre sei die Erlangung menschlicher „Reife“,welche sich in der Fähigkeit zu „spontanem Handeln“ zeige.

„Spontane Handlung“ sei wahrscheinlich das bedeutendste Konzept in seiner Arbeit. Was solle nun nach Feldenkrais darunter verstanden werden.

Als Spontanität bezeichne man oft das ungehemmte Ausleben irgendwelcher Bedürfnisse – hier dagegen heiße es einfach: „Alle Handlung, die nicht zwanghaft ist, ist spontan.“

Ein großer Teil des menschlichen Verhaltens sei von Zwängen regiert, da das meiste Lernen zu einer Zeit stattfinde, in der das Kind von Erwachsenen abhängig sei. Deshalb seien viele typische Verhaltensweisen mit bestimmten Emotionen verbunden, weil das Kind sie lerne im Rahmen von Erfolg oder Versagen, Lob oder Kritik. In diesem Alter der Abhängigkeit suchten die Kinder vor allem die Anerkennung der Erwachsen. So verpflichteten wir uns Dinge zu tun, weil unser emotionales Wohlbefinden davon abhänge und als Resultat werde das erlernte Verhalten verschränkt mit Affekten. Erst wenn wir uns davon wieder befreiten, dass der Affekt mit jeder Situation und Handlung verbunden sei, werde „spontane Handlung“ wieder möglich.

„Reife Erwachsene“ besäßen also die Fähigkeit, ihre Emotionen auf eine Art zu steuern, die dem beabsichtigten Verhalten angemessen sei.

Wo dies nicht gelinge, da käme es nach Feldenkrais zu einander widersprechenden „Überkreuzmotivationen“.

Felix Breuer zitiert nun einen zentralen Beleg (in der deutschen Ausgabe auf Seite 38f):

 

„Am Grunde aller Angst, bei der Erziehung versagt hat, liegt innerer Zwang zum Handeln oder Handlung verhindern. Und Zwang wird empfunden, wenn die Motivation zum Handeln widersprüchlich, das heißt: wenn das Schema, das man gewohnheitsmäßig ausführen würde, als die eigene Sicherheit gefährdend empfunden wird. Das Gefühl der Sicherheit ist verbunden mit dem Selbst-Bild, das während der Abhängigkeits-Periode gebildet worden ist. Manchen haben ihr gutes Aussehen, anderen äußerste Selbstlosigkeit, starke Männlichkeit, das Leitbild vom Übermenschen, äußerste Güte und noch andere imaginäre, nicht verifizierbare Begriffe und Vorstellungen, Denkgewohnheiten und Verhaltensmuster als Mittel gedient, um sich Zuneigung, Bestätigung, Schutz und Fürsorge zu verschaffen. Zwang wird empfunden, wenn irgendeines dieser Mittel Gefahr läuft, ohne Wirkung zu bleiben: Man fühlt sich dann gefährdet und schutzlos preisgegeben.“

 

Eine reife Person habe Kontrolle über die Intensität ihrer Gefühle und nicht umgekehrt, das heißt, es dürfe keine emotionalen Muster geben, die einen zu Handlungen zwängen oder dazu sie zu verhindern, was nun aber nicht heiße, Emotionen durch schiere Willenskraft zu erzwingen. Im Gegenteil: wo immer (Willens-) Anstrengung nötig sei, finde man Überkreuzmotivation. Nur unreife Menschen benötigten Willenskraft, um zu handeln.

Im Unterschied dazu seien mono-motivierte Handlungen nur von einer Motivation regiert, bei der alle parasitären Elemente, welche dazu tendierten sich durch Gewohnheit, Konditionierung und stereotype Bewegung auszuleben, fehlen und bei ihnen sei die Motivation, Erfolg zu haben nicht stärker als die Motivation zu handeln.

 

Breuer hebt nun wesentliche Elemente spontanen Handelns hervor:

 

  1. Spontanes Handeln zeigt sich durch einen effektiven Gebrauch des Selbst. Auch reife Menschen seien eingeschränkt durch ihre Fähigkeiten und die Umwelt, aber eben nicht durch bewusste oder unbewusste emotionale Zwänge. Sie nutzten in einer Situation nur die Elemente ihrer Erfahrung, welche dem gegenwärtigen Moment angemessen seien, seien also nicht behindert durch parasitäre Verhaltensmuster.

  2. Spontanes Handeln fühlt sich leicht an. Die subjektive Erfahrung von Anstrengung komme nicht von der Aufgabe, die vor einem liege, sondern von der Kreuzmotivation, welche das Individuum mit sich selbst kämpfen lasse. Eine Motivation gegen die andere. Jedes Gefühl von Widerstand, physisch, mental oder emotional sei konträr zu spontanem Handeln.

  3. Spontane Handlungen sind frei. Das reife Individuum wähle frei, ob es handle oder nicht. Da die Handlung frei von Emotionen aus früheren Lernprozessen sei, bringe die Wahl das Individuum nicht unter emotionalen Stress. Spontan könne die Handlung nur sein, wenn das Individuum frei sei zu wählen, d. h. wenn die Wahl nicht das heimliche/unbewusste Vermeiden einer der Möglichkeiten sei.

  4. Spontanes Handeln erlaubt die Möglichkeit des Scheiterns. Nur wenn die Möglichkeit des Scheiterns nicht die emotionale Sicherheit des Individuums gefährde, nur dann sei die Handlung frei. Natürlich habe man bei einer Entscheidung den Wunsch nach Erfolg, aber man dürfe sich davon nicht unter Zwang gesetzt fühlen.

  5. Spontane Handlungen sind reversibel. Eine spontane Bewegung sei reversibel, was heiße, man könne sie an jedem Punkt stoppen und umkehren ohne ein wesentliches Mehr an Anstrengung. Aber nicht nur in der Bewegung. Für Feldenkrais sei Reversibilität eine der allerwichtigsten Charakteristika für spontanes Handeln generell, welches er als Ebbe und Flut zwischen dem parasympathischen und dem sympathischen System beschreibt.

  6. Deshalb folgten und führten spontane Handlungen der Ebbe und Flut sympathischer und parasympathischer Dominanz. Handlungsmotive ließen sich grob in zwei Klassen unterteilen: Selbstschutz und Selbstbehauptung oder alles was mit Erholung, Entspannung, Gelassenheit, Zufriedenheit und Ruhe zu tun habe. Reifes Verhalten bedeute ein nie endendes Oszillieren zwischen Selbstschutz und Erholung. Damit das eine System ganz funktionieren könne, müsse das andere ganz gehemmt sein und dieses Pendel müsse vor und zurück schwingen. Ein reifer Mensch könne dieses Fließen führen so wie die Situation es erfordere.

Feldenkrais bleibe aber nicht bei einer abstrakten Beschreibung stehen, sondern er möchte den Menschen neue Erfahrungen ermöglichen durch physische Bewegung. Körper, Geist und Umwelt formten eine unteilbare Einheit. So wie der emotionale Zustand sich im Körper reflektiere, so habe jede Veränderung der Art, wie Menschen sich bewegten einen emotionalen Effekt. Deshalb wolle Feldenkrais die Menschen durch eine Serie von Bewegungen führen, welche neuartige subjektive Erfahrungen ihrer selbst hervorriefen und den Teilnehmern erlaubten, ein intuitives Verständnis der Wechselbeziehung von Bewegung und Emotion zu erwerben.

Die Schüler seien ermutigt, ihr Bewegungsrepertoire zu erforschen und dabei sorgfältig zu beobachten wie sich jede Bewegung anfühle. Bis sie Bewegung schließlich als reversible entdecken würden, die sich so leicht wie möglich anfühle. Das solle nicht mit dem vollen Einsatz aller Kräfte geschehen, verbissen und ehrgeizig, sondern leicht und spielerisch. Zwanghafter Widerstand werde überflüssig, Überkreuzmotivation lösten sich auf. Mache man diese Erfahrung öfter, dann falle es auch bei anderen Überkreuzmotivationen leichter diese aufzulösen.

„So kann der Einzelne lernen spontan zu handeln durch sorgfältige und aktive Selbstbeobachtung ebenso wie durch eine neugierig-offene und spielerische Einstellung zum Lernen.“

Nach dieser ausführlichen Wiedergabe der Feldenkrais-Methode wendet sich Breuer Laozis Wuwei zu:

Was heißt Wuwei, ein Wort, das an vielen Stellen des Daodejing auftaucht. Meist werde es übersetzt als „Nicht-tun“. Neben dieser eher negativen Mahnung, vorsichtig zu sein, nicht zu tun, gebe es aber auch die positive Empfehlung „Tun Nicht-tun“ oder „Handle durch Nicht-Handeln.“

Dieses „Nicht-tun“ sei aber dasselbe wie Feldenkrais „Spontane Handlung“. Während ein Tun, welches dagegen anempfohlen werde, zwanghaftes Handeln sei. Es klinge paradox, wenn es heiße, durch „Nicht-tun“ erreiche man alles, während „Tun“ sich gegen den Handelnden richte. Dieses Paradox löse sich aber auf, wenn man „Nicht-tun“ durch Feldenkrais „Spontanes Handeln“ und „Tun“ durch „Zwanghaftes Handeln“ ersetze.

Wie begründet er dies?

An vielen Stellen des Daodejing werde die Art der Handlung mit der emotionalen Einstellung des Handelnden in Beziehung gebracht. So sei Wettbewerb eine schädliche Motivation: L 68: The big winner does not compete (wer gut als Ritter, ist nicht streitbar. Übersetzung Günther Debon) oder: L81:Good people are not contentious; contentious people are not good. (Wer gut ist, disputiert nicht, wer disputiert ist nicht gut.)

Das Daodejing bringe Konkurrenz/Wettbewerb in Verbindung mit der Einstellung des Handelnden zum Erfolg: Der Wunsch zu gewinnen dürfe nicht zu groß sein und das Festhalten an den Objekten der Begierde, auch am Leben selbst muss ein leichtes sein: „Eben weil er (der Weise) nicht streitet, darum vermag niemand im Reich mit ihm zu streiten.(L22)

Was immer man gewinne, das habe man verloren, was immer man verliere, man habe gewonnen, so zitiert er weitere paradoxe Aussagen aus dem Daodejing. Große Macht, die aber nicht an der Macht klebe, das sei wirkliche Macht, während der geringeren Macht, die aber an der Macht klebe, es in Wirklichkeit an Macht mangele. Weise handelten, ohne daraus einen Anspruch abzuleiten. Das Ideal sei es zu schaffen, zu nähren, seine Last zu tragen, aber nicht zu besitzen, ja allgemein seine Arbeit zu tun und sie loszulassen, denn loslassen sei das, was es bestehen lässt.

Weise Menschen, die ihr Selbst hinter sich ließen, würden sich vorwärts bewegen, und indem sie ihr Selbst beiseite stellten, blieben sie zentriert. Es sind solche paradoxen Sätze, welche Breuer versucht durch Feldenkrais näher zu bestimmen. Denn dieses „Selbst“, das man hinter sich lassen könne, sei genau das zwanghaft emotionale Anhaften an den Ergebnissen unserer Handlungen, welches nach Feldenkrais dem reifen Verhalten im Wege stehe. Wann immer wir etwas „versuchen“ würden, etwas „einfordern“ oder „behaupten“, da sei immer das Ziel wichtiger für uns als die Handlung. Wir fühlten uns zum Erfolg verpflichtet und fürchteten uns vor dem Versagen. Wohingegen der Weise oder reife Erwachsene auch in Wettbewerb treten könne, aber er sei nicht dem Wettbewerb untertan, weil er verlieren könne wie auch gewinnen ohne davon abhängig zu sein. Von Lob oder Tadel abhängig zu sein bedeute für Laozi ein Leben in Furcht zu führen. Wer das tiefe Einssein erreiche, der könne nicht mehr kontrolliert werden durch Liebe oder Ablehnung, durch Gewinn oder Verlust. So hätten die Früchte unserer Handlungen die Macht, uns zu kontrollieren, solange wir abhängig seien von Zustimmung oder Ablehnung.

Breuer betont, dass weder Feldenkrais noch Laozi sich gegen Emotionen aussprechen würden, sondern nur warnen, sich ihnen untertan zu fühlen. Der reife Mensch hat Gefühle, aber er fühlt sich, was seine Entscheidungen betrifft, nicht seinen Gefühlen unterworfen.

Versuchen, einfordern, anhaften lässt sich am besten ausdrücken durch das Wort „wollen“, weshalb Laozi explizit davor warnt und die Vorzüge des „Nicht-Wollens“ betont. Breuer zitiert dazu den schönen Satz: The unwanting soul sees what´s hidden, and the ever-wanting soul sees only what it wants.(L1) (Die nichts-wollende Seele sieht das Verborgene, die immer-wollende Seele sieht nur was sie will oder „Wer ewig ohne Begehren, wird das Geheimste schaun; wer ewig hat Begehren, erblickt nur seinen Saum.“ Debon)

Hier sieht Breuer einen Unterschied zwischen Feldenkrais und Laozi, da Feldenkrais sich nicht so ausschließlich gegen das Wollen ausspreche, sondern nur gegen zwanghaftes Wollen. Allerdings sei dieser Widerspruch zu lösen, indem man dem reifen Individuum ein Wollen gestatte, das aber niemals eine zwanghafte Qualität annehme.

Für dieses Verhalten des Weisen gibt Laozi Gründe. Ihr Handeln gründet sich seiner Meinung nach nicht in irgendwelchen göttlichen oder moralischen Imperativen, sondern ergibt sich aus ganz pragmatischen Erwägungen: „Nicht-tun“ ist effektiver. Sie gewinnen, ohne zu konkurrieren, sie erreichen ihre Ziele, ohne Rechte geltend zu machen, sie tun, ohne zu tun und erreichen so alles. Handelten sie anders, führte dies zu einem Desaster. Das Gegenteil würde erreicht. In dieser Hinsicht seien Laozi und Feldenkrais gleich: Für Feldenkrais sei das spontane Handeln die effektivste Art, sich zu nutzen während die besten Absichten, zwanghaft ausgeführt, entgegengesetzte Resultate zeitigen würden.

Allerdings zielen beide Autoren über einen effektiven Gebrauch des Selbst hinaus. Feldenkrais Ziel sei generell ein reifes Verhalten, während Laozi von der Kraft spreche, die man erreiche, indem man dem Tao folge. So erreiche die weise Seele, ohne große Taten zu vollbringen, Größe und ihr gelängen große Dinge, ohne je mit großen Dingen zu handeln, denn es sei eine geheimnisvolle Kraft zu haben ohne zu besitzen, zu tun ohne darauf zu bestehen und zu führen ohne zu kontrollieren.

Weiter würden sowohl Laozi als auch Feldenkrais beobachten, dass Leichtigkeit eine charakteristische Eigenschaft des „Nicht-Tuns“ wie auch des „spontanen Handelns“ seien. Der Weg des Himmels sei ein Handeln in vollkommener Leichtigkeit.

Leichtigkeit bedeute allerdings nicht, dass uns die Dinge ganz einfach zufallen würden oder dass man alles leicht nehmen sollte. Laozi warne davor , die Dinge zu leicht zu nehmen, denn dies mache sie wertlos und sie zu locker anzugehen, mache sie hart. Der Weise, indem er das Leichte als Schweres nimmt, findet nichts schwer. Die charakteristische Leichtigkeit des „Nicht-Tuns“ beziehe sich auf die subjektive Qualität des „Nicht-Tuns“.Zur Verdeutlichung benutzt Laozi Bilder:

„Das Allerweichste der Welt holt im Rennen das Allerhärteste ein.“ (L43) oder das berühmte:

„Nichts auf Erden ist so weich und schwach wie das Wasser. Dennoch, im Angriff auf das Feste und Starke wird es durch nichts besiegt: Das Nicht-Sein macht ihm dies leicht. Schwaches besiegt das Starke; Weiches besiegt das Harte.“(L78)

Wasser trete mit niemandem in Wettstreit und nütze doch allen. (L8)

Ein anderes Bild sei das des Kindes, welches schwache Muskeln und weiche Knochen habe, aber einen starken Griff. Auch Feldenkrais benutze das Kind als metaphorisches Ideal, handle es doch noch ohne Überkreuzmotivation oder Zwanghaftigkeit. Allerdings dürfe man dieses Ideal nicht überstrapazieren, weil das Kind noch sehr wenig könne.

„Wird ein Wesen fest, so wird es alt“ (L55) und Feldenkrais schlage vor, die Fähigkeiten von Erwachsenen zu erwerben mit der mono-motivierten Einheit eines Kindes.

Eine letzte Gemeinsamkeit sieht Breuer im zyklischen Denken bei Laozi und Feldenkrais.

Leben und Tod, Wachstum und Niedergang, Stärke und Schwäche lösten sich bei Laozi in ewigen Zyklen einander bedingend ab. Das Dao wird regiert von Zyklen. Diese subjektive Qualität des Dao gleicht für Breuer frappierend den Eigenschaften der spontanen Handlung mit ihrer Ebbe und Flut von sympathischem und parasympathischem System, von Selbstbehauptung und Loslassen, von Yin und Yang.

Es geht bei Laozi also nicht um vollkommene Passivität beim „Nicht-tun“, sondern um eine Balance zwischen Selbstbehauptung und Lösung, welche keinen Zwängen unterworfen ist. Das seien die am schwierigsten zu erkennenden Überkreuzmotivationen, schreibe Feldenkrais, jene der Selbstbehauptung, die gemischt seien mit denen der Lösung/Erholung. Feldenkrais sehe darin auf der sozialen Ebene den schon immer ungelösten Konflikt zwischen der Gesellschaft und dem Individuum, wofür es keine absolute Lösung gebe. Stattdessen müsse man das Problem von einem fundamental anderen Gesichtspunkt angehen: Das Konzept der „spontanen Handlung“ sei ein Mittel, eine Dynamik der immer wechselnden Balance zwischen den beiden Polen zu verwirklichen.

Dieser fundamentale Perspektivenwechsel hat für Breuer auch eine mystische Qualität.

Was hindert Menschen am „Nicht-tun“ oder „spontaner Handlung“. Für Laozi wie für Feldenkrais spielen Erziehung und Moralsysteme eine große Rolle. Währen Laozi sich oft in paradoxen Sentenzen äußere, suche Feldenkrais eher rationale Erklärungen. So sei die Verschmelzung von Handlung und Emotion bei menschlichen Lernprozessen unvermeidbar, allerdings würden sie verschlimmert durch Erziehung, Anerkennung oder Ausschluss von Heranwachsenden und vor allem durch sog. absolute Imperative für Verhalten. Das Vermeiden von absoluten Aussagen zeige sich auch im Skeptizismus den Feldenkrais wie Laozi gegenüber der Sprache hegten. Deshalb drücke sich Laozi in rätselhaften und paradoxen Formulierungen aus, während Feldenkrais durchaus versuche, rationale Erklärungen zu liefern, sich dabei aber immer bewusst sei, dass diese ohne neue individuelle Erfahrungen nutzlos blieben, weshalb er seine „Körper-Übungen“ entwickelt habe, um eben diese Erfahrungen zu ermöglichen. Der Daoismus war immer mit Körperpraktiken verbunden und ist es heute noch und die Weisen, den Körper zu benutzen, zeigen deutliche Ähnlichkeiten.

Ein Hauptunterschied liegt in der Art des Unterrichts: Wo Feldenkrais zu spielerischem Experimentieren ermutigt und Korrekturen seitens des Lehrers als kontraproduktiv sieht, spielt Wiederholung in der daoistischen Tradition eine Hauptrolle wie auch der Schüler immer auf die Korrektur durch den Lehrer angewiesen bleibt.

Feldenkrais wie Laozi benutzen Körper, Sprache und Lernen um das der subjektiven Erfahrung inhärent Mystische (Unaussprechliche) zu kommunizieren. Laozi geht dabei einen Schritt weiter, indem er von tiefer Einheit, dem Einen, dem Namenlosen spricht. Für Breuer gibt es im Herzen des Daodejing ein tiefes Geheimnis, auf dem die gesamte Bedeutung letztlich beruht. Wie soll man die Arbeit von Feldenkrais, die in der empirischen Welt der manifesten Dinge gründet mit einem so durch und durch mystischen Text vergleichen?

 

Breuer sieht auch bei Feldenkrais die Bedeutung eines Bildes von Einheit/Vereinigung, obwohl von einem vollkommen empirischen Standpunkt her kommend: Geist, Körper, Umgebung bedingen sich wechselseitig. Eins zu ändern, ändere alles. Breuer schreibt: „Dieses logische Argument liefert eine wichtige Einsicht, aber es adressiert nicht die offenbarende Erfahrung, welche die Welt verändert und welche der Gegenstand des Geheimnisses ist.“(S. 19)

Feldenkrais vermeide es, über Geheimnisse zu schreiben gerade aus dem Grunde, weil man darüber nicht schreiben könne. Und doch tauche es auf als „Reife“, wenn er z. B.

einen Mann beschreibe, der von einer Operation genesen sei: „Man sieht ein, wie unbedeutend man ist innerhalb der Welt als eines Ganzen, und von welch einmaliger und überragender Bedeutung für sich selbst und für die, welche von einem abhängig sind. Kurz, Reife mag plötzlich über einen kommen, und man steht dann auf als ein neuer Mensch.“ (Das starke Selbst, S. 204) Und bemerkenswerterweise würde Feldenkrais diese Erfahrung dann in Begriffen seiner Theorie der spontanen Handlung beschreiben: „Wenn wir einsehen, wie unbedeutend wir sind und wie unwichtig alles ist, was wir denken, tun oder nicht tun können, dann finden wir uns im vollen Besitz unserer selbst bis zur potentiellen Grenze dessen, was wir vermögen. Diese Art labiles Gleichgewicht, das man in jeder Handlung verlässt und für die nächste wiederherstellt, ist das Wesen menschlicher Reife.“(Das starke Selbst 274f.)

 

Wuwei bedeutet spontane Handlung. Dies ist das Fazit von Breuers vergleichender Lektüre des Laozi und von Feldenkrais. Lese man mit dieser Interpretation im Kopf die beiden Texte, so zeigten sich überzeugende Ähnlichkeiten. Der Ertrag dieser gemeinsamen Interpretation liege darin, dass sie neues Licht auf jeden der Texte werfe. So würden viele der Paradoxien und Geheimnisse des Wuwei, interpretiere man sie als spontane Handlung, plötzlich klar. Feldenkrais Verdienst sei es, sich auf die subjektive Erfahrung spontanen Handelns zu beziehen und doch wissenschaftliche Erklärungen und empirische Experimente zu liefern. Dabei verdränge er nicht die subjektive und irgendwie auch geheimnisvolle Qualität seiner Art des Handelns zugunsten abstrakter Interpretation. Vielmehr mache er sie durchsichtig durch beides: abstrakte Argumentation und spielerisches Experimentieren. Benutze man seine Arbeit, so würden das Daodejing auch einer rationalen Sicht zugänglich, ohne etwas von seiner Magie und seinen Wundern zu verlieren.

Aber dieser Vergleich fordere auch Feldenkrais Theorie heraus. Denn obwohl Feldenkrais große Sorgfalt darauf verwende, sich von Mystizismus, wie er Laozi erfreue, fernzuhalten, so zwinge ihn die daoistische Perspektive doch, die mystischen und philosophischen Aspekte spontanen Handelns ausführlich zu erklären: Was heißt es, zu wollen ohne Zwanghaftigkeit, bei allen Handlungen die Möglichkeit des Scheiterns zu akzeptieren? Was ist das instabile Gleichgewicht zwischen Selbst-Behauptung und Loslassen, Individualismus und Kollektivismus? „Spontanes Handeln“ liefere klare Antworten auf diese Fragen auf der kleinen Skala körperlicher Bewegungen und alltäglichen Verhaltens. Laozi frage aber, wie passen diese Ideen, wie fühlen sie sich an im großen Maßstab des Lebens selbst und er verbindet sie mit der sozialen und politischen Gemeinschaft. Feldenkrais legt nahe, dass „spontanes Handeln“ auch auf diesen Ebenen Antworten bereit hält, aber die Herausforderung sei es, diese ebenso klar, einfach und zugänglich zu machen, wie jene auf der mikroskopischen Skala.

Und Breuer beschließt: „Das westliche intellektuelle Streben nach Beobachtung, Analyse, Abstraktion und Experiment hat zu großartigem technologischen Fortschritt geführt. Gleichwohl hat die Wissenschaft darin versagt, bedeutsame Einsichten im Bereich der subjektiven Erfahrung zu liefern. Dies bleibt das Gelände von Sport, Kunst, Religion, Liebe und schlussendlich dem Leben. Feldenkrais´Ideen zeigen, wie jede/er Einzelne neue subjektive Erfahrungen machen kann durch >wissenschaftliche< Erforschung: durch Beobachtung beider Bereiche mit spielerischer Neugier." (Breuer S. 21)

 

 

01. Juni 2013

 

Was heißt: Spontanes Handeln? Und was heißt: Zwanghaftes Handeln?

 

Moshé Feldenkais in seinem Buch Das Starke Selbst, Frankfurt 1989, S. 207

 

"Spontaneität bedeutet nicht, daß jeder Drang und Trieb ausgeführt werde, nur weil es ihn gibt und er sich meldet, sondern daß alles Handeln spontan ist, wenn es nicht zwanghaft ist. Das klingt vage und ausweichend, aber nur auf den ersten Blick; denn Zwang ist ein positiver parasitärer Zusatz. Wenn man über den ganzen Umfang seiner Stimme voll verfügt, gebraucht man die Tonhöhe, bzw. den Tonfall und die Lautstärke, die gerade angemessen und zweckmäßig sind, und empfindet dabei keinerlei Zwang. Kann man aber nur einen bestimmten Ton erzeugen oder nur bei einer bestimmten Lautstärke intonieren, so mag dies zwar meistens genügen, aber es wird immer Situationen geben, in denen die gewohnte Art und Weise unzulänglich oder fehl am Platze sind. Sind keine anderen Mittel verfügbar, so wird, in Ermangelung einer Alternative, die gewohnte Art zwanghaft. An sich ist zwanghafte haltung nicht falsch; zwanghaft und falsch wird sie nur, weil sie angewendet wird, wo sie nicht hingehört..."

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